AKADEMIE IM FOKUS K »Vun Rhingroller un andere ärm Lück« Hören wir zunächst die musikalische Miniaturlektion in Sozialgeschichte und Entwicklungspsychologie – ganz ohne akademische Begriffe 1 : » DER LETZTE SCHÜRGER (RHINGROLLER-KRÄTZCHER)« Carl Wirts, 1874/1877, gesungen zur „Denkst-du-daran“-Melodie Ming leev Stadt Köln, lohß ich deer hück ens sage, Wat ich en deer ald all hann durchgemaht, Un we ich lans de Arbeit mich dhät schlage, Esu noch echter Rhingkadetten Aat. Ich wor ‘ne Jung vun sechs bis sibbe Johre, Do nohme mich de andre met no’m Rhing, Mer dhäten do e Loch en’t Wingfaß bohre Un botzten durch ‘ne Strühshalm uns dä Wing. Als Rhingkadett wood mich geleeht et Schürge, Doch gohv ich die Karrjähr bahl widder op, Dann op dem Gangbohd, dat kann ich verbürge, Wa’mer do schürg, muß nööchter sin der Kopp. Un domols kunnt noch nit, wie jitz, ich suffe, Domols hätt mich „en Halv“ noch beet gemaht, Doch jitz dunn ich mich secher nit verkruffe, Wann dressig Halven ich han en der Schwaat. Un wann dä Fastelovend aan dhät kumme, O Donnerletsch, wat ha’mer et gejöck! Dann brahte mer met sibbe decke Trumme, E Ständche flöck der Taat, der Böckderöck. Der Klotze Matheis dät om Kohhohn blose, Op singer Fleut mien Broder Arnold blees, Ich dhät me’m Rummelspott derzwesche rose, Der Düvels-Bäätes schlog op en ahl Geeß. Zo der Zick kannt ich noch en adig Mädche, Dat mer et schönste vun de andre schung, En Schürgersdohchter wor mi mugglich Nettche, Un ich – der Neeres – ‘ne Rhingrollerschjung. Mer bützten uns un wollte treu uns blieve, Un dhäten Ärm en Ärm des Ovends gonn, Op eimol dhät mer zum Kummiß mich schrieve, Un Itt kohm en de Bayerpanzion. Un Aachunveezig stürmte mer de Bräuer, Der langen Hannes met der Fahn vörop, Doch an der Wollköch komen Hacketäuer, De han dat Fell uns ledderweich geklopp. Un no, och Gott, wo eß die Zick geblevve, Dä laus’ge Dampkrahn nimp uns all der Moot, Jitz müsse Säck mer dragen, öm zo levve, Un dä Schabau eß och nit mih ’su got. Un hann ich jitz des Dages Laß gedrage, Gitt et Thriater ovends meer noch Geld, Staats als Stadiß gemaht bes an der Krage, Spillt Neres tapfer singe strammen Held. Der Miebes un dä Jupp, dä rudhen Bengel, Der Drickes un dä Pitter spille met: Eß et dann uus, gon mer vergnög zum „Engel“, Un dann zom Dröppche, bes mer sinn em Trett! 1 Der Liedtext ist in der Schreibweise wiedergegeben, wie Günter Schwanenberg sie bei seinen Recherchen vorfand. Es ist die Zusammenführung zweier Texte von Carl Wirts: Rhingroller-Krätzcher, 18. 01. 1874. In: Kölner Kommersbuch (Wilhelm Schneider-Clauß, 1896) und Der letzte Schürger, 22. 1. 1877, ebda. Nähere Erläuterungen s. auch: Schwanenberg G./Dietmar C./Oelsner W. (2015) „Wat wor dat doch för e Levve. Kölsche Lieder spiegeln kölsche Geschichte des 19. Jahrhunderts“, Köln, Marzellen, S. 151. Legen wir den auf sechs Strophen verdichteten „Lebensroman“ mal unter das Brennglas unseres heutigen Wissens. Dann ist es zum Weinen. Und zum Empören! Was da als gewitztes Liedchen us dem ahle Kölle einherkommt, verströmt eine einzige Melancholie. Ohne die wärmende Einkleidung in der Mundart klänge das Berichtete so unbarmherzig, wie das Leben für viele damals war. Da wird ein sechs, sieben Jahre alter Junge verführt, sich als Handlanger anderer Gelegenheitsarbeiter zu verdingen. Geködert wird er mit dem Gemeinsten, womit man kleine Jungs ködern kann, nämlich mit ihrer vorzeitigen Aufnahme in die Welt der Großen. Und zwar nicht als Spiel, nicht im Karnevalskostüm eines Sheriffs, Piraten, Superman. Nein, alles in echt: Arbeiten und Saufen mit den Großen. Mit welch einem Triumphgefühl blickt so ein Steppke auf seine Altersgenossen, die sich von der Lehrerin brav das Einmalseins abfragen lassen müssen! Keiner zieht ihn aus dem Verkehr, als sein Frühwarnsystem anschlägt. Er spürte ja, dass Schnäpse nichts für Jungs sind: „Domols hätt mich en Halv noch beet gemaht“ (erledigt, fertig gemacht). Es war zu drollig für die alten Haudegen, den torkelnden Kleinen mit seiner Karre auf dem schmalen Gangbrett um die Balance kämpfen 18 KLAAF AKADEMIE
K AKADEMIE IM FOKUS Diese Ansichtskarten zeigen eine Pferdebahn und die mittelalterlichen Torburgen zu sehen. Abschmieren ließen sie ihn aber nie. Auch das Milieu pflegt einen Ehrencodex. Das macht es für den Kleinen noch attraktiver. Als junger Mann bringt es Neeres zum reichsstädtischen Hafenarbeiter. Und auch privat winkt das Glück, es heißt Katharina, ist hübsch und mollig. Do künnt jet drus wääde. Nix da! Das Militär ruft. Fragen tut es den kleinen Mann nicht. Nach dem Barras zurück in den Beruf? Von wegen! Der Anschluss an die Zeit ist verpasst, der Dampfkran erfunden. Wer braucht noch Rhingroller? Was bleibt ihm noch? Ein bisschen Kultur. Neeres spielt Statist beim Theater. Das kann er. Natürlich des Geldes wegen – aber wohl nicht nur. Er hat Sinn für Dramaturgie, ironisiert sich selbst tragikomisch als „strammer Held“. Auch musikalisch war er wohl, wenn wir von seinem Fastelovends-Ständchen mit Fleuten-Arnold und anderen hören. Man ahnt, was aus dem Sechsjährigen auch hätte werden können, hätte ihn damals jemand beiseite genommen und gefördert. So aber ist er beim Wein geblieben. Den kann er nun bezahlen, muss ihn nicht mehr wie einst stibitzen. Immerhin. Warum besingen Menschen so etwas? So etwas Trauriges, Perspektivloses? „Der letzte Schürger“ ist letztlich die Chronik einer Lebens-Enttäuschung. Psychologische Hilfe beginnt fast immer damit, dass Menschen zur Sprache bringen, was sich sonst nur als Gefühl breit macht. Gefühle können überwältigen, Affekte sich verselbständigen. Wer sie in Sprache kleiden kann, „erlangt wieder Gewalt über sich“. Wer spricht oder singt, der tut etwas. Und wer etwas tut, der ist nicht ohnmächtig, also nicht ganz ohne Macht. Der Mensch mag dann immer noch die Zeiten gegen sich haben. Aber er hat sich selbst. Neeres ist ein guter Selbstbeobachter. So jemand kann kein Dummkopf sein. Doch er gehört zu den Verlierern seiner Zeit. Gleichwohl kommt er nicht verbittert rüber, auch nicht unsympathisch. Er hat sich in seinem Schicksal eingerichtet, beim Schoppen Wein mit seinen Kumpanen. Und er reflektiert sein Leben. Damit bewahrt er seine Würde. Spielball der anderen war er lange genug. Ob Neeres seine Katharina noch bekam? Im Lied taucht sie nicht mehr auf. Doch was ihm bleibt, ist seine Stadt. Die spricht er an: „Ming leev Stadt Köln“. Man mag lächeln, wenn Menschen ihre Stadt derart personifizieren. Natürlich ist Mutter Colonia ein Phantom, so wie „d‘r Neeres“ eine fiktive Person ist. Doch mit deren Schicksal können sich viele identifizieren, nicht nur „zu Kaisers Zeiten“. Und wer seine Stadt als Mutterfigur anreden kann, hat eine Adresse für seine Klage: „Ming leev Stadt Köln, lohß ich deer hück ens sage/Wat ich en deer ald all hann durchgemaht.“ Im Kummer ist so eine Adresse nicht wenig. Lieder ersetzen natürlich keine Therapie. Doch manchmal vermitteln sie etwas von dem, was professionelle Hilfe auch geben will: einen Raum für unser Kümmernis. Einen Resonanzraum. Tagebücher vermögen Ähnliches. Wer allerdings mit sieben Jahren zur Kinderarbeit herangezogen wird, lernt nicht Tagebuch zu schreiben. Wie gut, dass auch gesungen – und verstanden – werden kann, „was mal gesagt werden muss.“ Welch ein Schatz, wenn eine Region eine prall gefüllte Liedertruhe solcher Sujets bereithält! Nähere Informationen zum Klaaf em Mediapark Wolfgang Oelsner „Musikalische Stadtgeschichten – för anzohöre ...“ am 15. Oktober finden Sie auf unserer Website unter „Veranstaltungen“. Die Veranstaltung ist ausverkauft! Liederbücher, auch die im Artikel genannten, sowie Noten und weiterführende Literatur zu Musik hält unsere Bibliothek für Sie bereit. AKADEMIE KLAAF 19
Laden...
Laden...
Folge uns
Facebook